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Archiv der Kategorie: Judentum – Beiträge

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Hier finden Sie Informationen über die Geschichte und Gegenwart der Jüdischen Gemeinde, über das neue Haus, über aktuelle Veranstaltungen, darüber, wie Sie uns erreichen können, und vieles mehr. Über Ihre Anregungen freuen wir uns und wenn Sie Fragen haben, können Sie jederzeit mit uns Kontakt aufnehmen.

Wann wurde die Torah an das Volk Israel gegeben?

Gedanken zu Shavouth, dem Fest der Übergabe der Torah.

Übermorgen am Montag, den 13. Juni feiert das jüdische Volk in aller Welt das Wochenfest Chag Ha’Shavuoth, von dem in 3. Mose 23, 15-16 geschrieben steht: „Danach sollt ihr von dem Tage nach dem Schabbat an zählen, von dem Tage an, da ihr die Garbe darbringt; sieben volle Wochen sollen es sein. … fünfzig Tage, dann sollt ihr dem Herrn ein Speisopfer von neuem Korn darbringen.“ Daher wird Shavuoth auch das Fest der Ernte und der Erstlingsfrüchte genannt, ein Pilgerfest, an dem die Israeliten zum Tempel gingen und ihre erste Ernte als Geschenk an die Priester gaben. Unsere Weisen haben herausgefunden, dass das Volk Israel nach dem Auszug aus Ägypten (im 13. Jh. v.d.Z.) und einer Wüstenwanderung von ungefähr 6 Wochen den Berg Sinai erreichte. Nach einer Woche Vorbereitung bekamen die Kinder Israel am 50sten Tag die Torah, so dass Shavuoth auch das Fest der Übergabe der Torah ist. Ein wunderschönes Fest – wichtig und reich an Ereignissen. Israel feiert es als großes lebendiges Fest mit Tanz und Gesang und mit köstlichen Speisen aus Milch und Honig. Aber seitdem ich denken kann, weckt dieser Tag jedes Jahr aufs neue folgende Frage bei mir: Was war die Übergabe der Torah am Berg Sinai tatsächlich? Seit Kindertagen war die Übergabe der Torah immer eng verflochten mit der Übergabe der steinernen Bundestafeln, „vom Finger Gottes beschrieben“ und durch Mose an das Volk Israel weitergegeben, das am Fuße des Berges Sinai wartete. So ist es bei den meisten Menschen, denn auf vielen Darstellungen ist es so zu sehen: immer die zwei Gesetzestafeln als Symbol der Übergabe der Torah. Aber – war es wirklich so? Die Geschichte der Übergabe der Torah, die Offenbarung am Berg Sinai, steht im 2. Buch Mose 19-25 + 31-35 und im 5. Buch Mose 9-10. Die Versionen beider Quellen sind nicht identisch, aber wenn wir sie gemeinsam betrachten, entdecken wir, dass keine Verbindung zwischen der Übergabe der Torah bei der Offenbarung am Berg Sinai und der Übergabe der Gesetzestafeln besteht. Am 50sten Tag nach dem Auszug aus Ägypten offenbarte sich Gott vor dem Volk „… da erhob sich ein Donnern und Blitzen auf dem Berge und eine mächtige Posaune ertönte, so dass das ganze Volk im Lager erschrak.“ Und es wurde die Stimme Gottes gehört, wie sie die zehn Gebote sprach. „Als das Volk Donner und Flammen wahrnahm, … fürchtete es sich und zitterte … und sprach zu Mose: Rede du mit uns und wir wollen hören, aber Gott soll nicht mit uns reden, damit wir nicht sterben“ und Moses übergab dem Volk die restlichen Regeln und Gesetze. Die ganze Torah wurde an unserem Wochenfest mündlich gegeben, am 50sten Tag nach dem Auszug aus Ägypten, am 6. des Monats Siwan (13. Juni). Am nächsten Morgen wurde Mose von Gott auf den Berg Sinai gerufen und blieb 40 Tage und 40 Nächte. Und dort erhielt er die Tafeln aus Gottes Händen. Als er herunter kam, um sie dem Volk zu geben, sah er, dass das Volk um ein goldenes Kalb tanzte und es anbetete – da nahm er die Tafeln und zerschmetterte sie am Fuße des Berges. Und Mose bestrafte das Volk schwer für seinen Frevel. Dies geschah am 17. Tammuz (24. Juli). Am darauffolgenden Morgen stieg Mose wieder auf den Berg Sinai, um von Gott Vergebung für den Götzendienst des israelischen Volkes zu erflehen. Gott straft die Israeliten zwar, beauftragt aber gleichzeitig Mose, sie zum verheißenen Land zu führen. Wieder blieb Mose 40 Tage und Nächte. Dann bat Gott Mose, zwei neue Tafeln, genau wie die ersten, zu ihm hinaufzubringen. Also verließ Mose den Berg am 28. im Monat Aw (2. September), bereitete neue Tafeln vor und stieg am nächsten Tag (29. Aw) erneut hinauf zu Gott. Abermals blieb er 40 Tage und Nächte. Gott beschrieb mit seinem Finger die neuen Tafeln von beiden Seiten und gab sie wieder in Moses Hände. Als Mose erneut hinabstieg war der 10. Tischri (13. Oktober) – unser Feiertag Jom Kippur. Und Mose gab die gute Nachricht von der Vergebung Gottes an das Volk Israel weiter, das Gott bat „verzeihe uns unseren Frevel und unsere Schuld und mache uns zu deinem Eigentum“. Jom Kippur ist unser höchster und wichtigster Feiertag, an dem wir büßen und für alle unsere Sünden beten, wie es heißt: „Das sei euch eine ewige Satzung, zu sühnen die Kinder Israel wegen all ihrer Sünden, einmal im Jahr.“
Die mündliche Übergabe der Torah, am Anfang direkt von Gott und später durch Mose als Mittler, ist unser Wochenfest, wie es in der Torah geschrieben ist. Die Übergabe der endgültigen steinernen Gesetzestafeln hat – nach der Auslegung unserer Weisen – vier Monate danach stattgefunden, an Jom Kippur. Was für eine bedeutungsvolle und schöne Erfahrung ist es, sich durch unsere Feste hineingenommen zu fühlen in die Geschichte unseres Volkes, die sich entlang dieser Kette von Ereignissen entfaltet, vom Auszug aus Ägypten – dessen wir an unserem Pessachfest gedenken – über die Übergabe der Torah – die wir am Wochenfest feiern – bis zu unserem heiligen Buß- und Bettag – dem Jom Kippur, an dem wir seit der Zeit des goldenen Kalbes über alle Generationen bis heute unsere Sünden bekennen und Buße tun.

Amnon Orbach

Der größte Prophet aller Zeiten und seine Strafe

Vor drei Tagen feierte das jüdische Volk Rosh Hashana, das jüdische Neujahrsfest, zum Beginn des Jahres 5765 und am kommenden Samstag ist Jom Kippur, der jüdische Buß- und Bettag.
Die Tage zwischen Neujahr und Jom Kippur werden die „10 Tage der Umkehr“ genannt. Wir sind aufgerufen, uns der Taten des vergangenen Jahres zu besinnen, unseren Weg zu verbessern und unseren Glauben zu vertiefen. In diesem Monat wird der jährliche Zyklus der Lesung der Torah (alle 5 Bücher Mose) in der Synagoge beendet. Das Schlußkapitel 5. Mose 34 läßt mich jedes Jahr über ein menschliches Dilemma nachdenken, für das es keine Erklärung gibt, die wir Menschen verstehen können. Es ist das Ende von Mose.
Mose, der größte Anführer Israels, der einzige Mensch, der mit Gott „Angesicht zu Angesicht“ geredet hat. Diesem Mann, den Gott gegen seinen Willen beauftragt hat, die Kinder Israel aus Ägypten zu führen und sie zu einem Volk zu machen, der Anführer, der dem Volk Israel und der ganzen Welt die 10 Gebote und die Torah gegeben hat, der 40 Jahre in der Wüste auf seinen Schultern die Bürde eines schwierigen Volkes getragen hat, der Beleidigungen erlitten hat und sich mit Aufständen konfrontiert sah, bis er sein Volk zu den Toren des verheißenen Landes Israel gebracht hat, – diesem Mann verbietet Gott, sein Volk nach Israel hineinzubringen. Gott ermöglicht es ihm nicht, sein Ziel zu erreichen, sondern er soll auf den Berg Nebo steigen (am östlichen Ufer des Jordans), das Land von weitem sehen und dort sterben.
Mose ist 120 Jahre alt, “sein Auge war nicht trübe geworden und seine Frische nicht geschwunden“, aber er muß nach Gottes Wort sterben. Wir sollen nicht denken, daß es nicht Moses Wunsch war, sein Volk in das Land Israel hineinzuführen: “Und ich flehte zum Ewigen in selbiger Zeit also: … Laß mich doch hinüberziehen und das schöne Land sehen, das jenseits des Jordan liegt, dieses schöne Gebirge und den Libanon …“ und der Ewige sprach zu mir: “Laß genug sein! Sprich zu mir nicht mehr von dieser Sache. Steige hinauf auf den Gipfel und hebe auf deine Augen nach Westen, Norden, Süden und Osten und schau mit deinen Augen, denn du wirst diesen Jordan nicht durchschreiten.“
Die Torah erklärt nicht, was die Sünde Moses war und warum er so schwer bestraft war. Es ist aufschlußreich, daß Mose in seiner Rede zum Volk Gott nicht erwähnt, ihn nicht beschuldigt und auch nicht für eine Sünde um Entschuldigung bittet, die ihm nicht bekannt ist. Für Mose ist es klar, daß er wegen der Sünde dieser Generation des Volkes Israel, für das er verantwortlich ist, bestraft wird und leidet. Vielleicht sollen wir schlußfolgern, daß ein Anführer die Schuld des Volkes tragen und die Konsequenzen akzeptieren muß, auch wenn nicht der geringste Zweifel besteht, daß er selbst nicht schuldig ist.

Amnon Orbach

Auszug aus Ägypten – Die Entstehung des Volkes Israel

Die jüdischen Schriften widmen dem Auszug aus Ägypten viel Raum. Vier der fünf Bücher Mose – Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium – beschreiben diese Periode. Alle Schriftsteller der Bibel, auch die Propheten, beschäftigen sich immer wieder mit diesem Ereignis. Wodurch hat der Auszug aus Ägypten soviel Aufmerksamkeit verdient? Dadurch, daß er eine der beiden Begründungen für den Beginn der Existenz des Volkes Israel ist. Zum einen kann man sagen, daß das Volk Israel seit der Schöpfung existiert, die nach der Zählung des jüdischen Kalenders vor 5763 Jahren stattgefunden hat und deren man in der Feier des jüdischen Neujahrsfestes im Herbst gedenkt. Zum anderen datiert man die Entstehung des Volkes Israel mit dem Auszug der Hebräer – der Israeliten – aus Ägypten vor ungefähr 3300 Jahren. Denn in jener Zeit, während der Wanderung zum verheißenen Land, wurde das Volk Israel zu einer nationalen Einheit. Und seither ist dieses Volk durch den Bund mit Gott auch verpflichtet, alle seine Gebote zu erfüllen, die in den erwähnten vier Büchern Mose niedergeschrieben sind. Bei der Betrachtung der 10 Gebote, die dem Volk Israel in der Offenbarung am Berg Sinai gegeben wurden, findet man diese beiden Begründungen in den unterschiedlichen Erklärungen zum vierten Gebot wieder. Es ist das Gebot, den Schabbat, den Samstag, zu heiligen. Die erste Version begründet die Heiligung des Schabbat mit der Geschichte der Schöpfung der Welt: „Denn sechs Tage hat der Ewige gemacht den Himmel und die Erde … und geruhet am siebenten Tage, deswegen hat gesegnet der Ewige den Schabbat und ihn geheiligt.“ (Ex 20,11). Die zweite Version begründet dies mit der Erinnerung des Volkes Israel an den Auszug aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit des Volkes in seinem Land: „Und sollst bedenken, daß du ein Knecht gewesen im Lande Ägypten und dich herausgeführt der Ewige dein Gott von da …darum hat dir der Ewige dein Gott geboten, den Schabbat zu halten.“ (Dtn 5,15). Der wichtigste Feiertag Israels, der Schabbat, wird also durch die zwei unterschiedlichen Begründungen der Entstehung des Volkes Israels gedeutet. Obwohl die beiden Ereignisse in der Torah, im Gebet und in der jüdischen Tradition etwas miteinander konkurrieren, was ihre Wichtigkeit betrifft, ist ihre Bedeutung gleichermaßen tief: die Verbindung einerseits zur Schöpfung, zum jüdischen Glauben an den einzigen Gott und andererseits zur jüdischen Nationalität. Hier wird die besondere, untrennbare Verbindung zwischen dem jüdischen Volk als Nation und seiner Religion deutlich. Wir feiern den religiösen Anfang des jüdischen Volkes an Rosh Hashana (dem jüdischen Neujahr), und den Anfang der Existenz des Volkes Israel hat die jüdische Welt in der vergangenen Woche sieben Tage lang gefeiert – an Pessach. Die enge Verbindung von Volk und Religion existierte bis zur Epoche der Aufklärung. Aber die vollen Rechte, die die Juden in Europa seit dem 18. Jh. erhielten, riefen eine nationale Assimilation mit den Ländern in denen sie lebten hervor. Dadurch entwickelte sich eine Tendenz, nur nach der Religion Jude zu bleiben, aber die nationale Zugehörigkeit mit der Nation, in der man lebte, zu verbinden. Eine Gegenbewegung war die nationale politische Entwicklung unter den Juden Europas, die zionistische Bewegung, die danach strebte, einen unabhängigen jüdischen Staat zu gründen. Sie war hauptsächlich säkular und vernachlässigte ihr religiöses Bewußtsein, aber sie war eng verbunden mit der jüdischen Geschichte, dem Jahrtausendealten jüdischen Schicksal, und führte zur Gründung des Staates Israel. Die zwei Konzepte, Religion ohne Nation und Nation ohne Religion, brachten schwere Spannungen mit sich. Diejenigen, die im Judentum nur die Religion sehen, können den großen nationalen Reichtum des Judentums nicht verleugnen und diejenigen, die im Judentum nur das Volk und seine nationalen Bestrebungen sehen, können die Tatsache nicht verleugnen, daß ein enormer Teil der jüdischen Kultur religiös ist. Die enge Verknüpfung von Religion und Nation findet auch in den meisten religiösen jüdischen Feiertagen ihren Ausdruck, die immer zugleich mit der Geschichte, mit Landwirtschaft, Natur usw. verbunden sind. Die vielen Namen des Pessachfeiertags zeugen hiervon: ‚Pessach’ – der religiöse Name, der sich auf das Pessachopfer bezieht, ‚Chag Ha’mazzot’ – der geschichtliche Name, der vom eiligen Backen des ungesäuerten Brotes beim Auszug aus Ägypten erzählt, ‚Chag Ha’aviv’ – das Frühlingsfest, der Beginn der Ernte im Land Israel, ‚Chag Ha’cherut’ – das Fest der Freiheit, an dem wir feiern, daß ein Volk von Sklaven in Ägypten ein freies Volk in seinem von Gott versprochenen Land wurde. Deshalb versuchen die meisten Strömungen heute, diese beiden Pole zu überbrücken. Es gibt kaum ein jüdisches Haus, sei es auch noch so säkular, das nicht das Pessachfest mit Freude feiert und in der Mannigfaltigkeit des Judentums genau die Komposition von Volk und Religion in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung findet, die es sucht.

Amnon Orbach

Torah: Kreis des Lebens – Kreis des Lernens

Sukkot, das Laubhüttenfest und Simchat Torah, das Torahfreudenfest

In einer Woche feiern die Juden in aller Welt Sukkot, das Laubhüttenfest. In der Torah heißt es: „In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage … Damit es eure Geschlechter erfahren, daß ich in Hütten habe wohnen lassen die Kinder Israel, als ich sie herausgeführt aus dem Lande Ägypten.“ (3.Mose 23, 42-43) Wie die meisten jüdischen Feiertage hat auch Sukkot ein landwirtschaftliches Motiv, es ist der Feiertag der Ernte, an dem alle Früchte von den Feldern und Weinbergen gesammelt werden und steht am Ende des landwirtschaftlichen Jahres. Aber nicht nur das landwirtschaftliche Jahr endet. Ein weiteres wichtiges Ereignis findet statt: die jährliche Torahlesung in den Synagogen endet. Man beendet das Lesen der ganzen Torah am Ende des 5. Buch Mose, und fängt unmittelbar im Anschluß von neuem an, mit der Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose. Dies geschieht am 8. Tag von Sukkot, am Feiertag Simchat Torah, dem Torahfreudenfest. Eine Feier voller Fröhlichkeit, Gesang und Tanz mit der Torahrolle im Arm. Wenn ich das Ende der Torah lese, werden in mir viele Gedanken geweckt. An erster Stelle – ihr trauriges Ende. Mose, der große Anführer des Volkes Israel verabschiedet sich von seinem Volk und von der Welt. Ein Anführer, der sein ganzes Leben danach gestrebt hat, sein Volk nach 40 Jahren Wüstenwanderung in das Land Israel zu bringen, erlebt es nicht, selbst in das Land hinein zu kommen. “Und der Herr redete mit Mose … geh … auf den Berg Nebo … gegenüber Jericho, und schaue das Land Kanaan, das ich den Israeliten zum Eigentum geben werde. Dann stirb auf dem Berg … denn du sollst das Land vor dir sehen … aber du sollst nicht hineinkommen.” (5.Mose 34,7). Warum verdient Mose so eine schwere Strafe? Der Grund dafür ist in unseren Augen – menschlichen Augen – ein ganz unbedeutender: Als sich die Israeliten während der Wüstenwanderung bei Mose beklagten, daß sie kein Wasser zu trinken hätten, sagte Gott zu Mose, er solle das Volk sammeln und zu einem Felsen sprechen, so daß der Fels Wasser geben würde. Mose sammelte das Volk, aber anstatt zu reden schlug er mit seinem Stab zweimal gegen den Felsen und der Fels gab Wasser. Das war seine Sünde, wegen der er keine Erlaubnis bekam, in das Land Israel zu kommen, sondern mit seinem Leben bezahlte. Das Folgende ist ebenso erstaunlich: in Josuas Anwesenheit befiehlt Gott Mose, seine Aufgaben an Josua weiterzugeben. Nach unserem Verständnis – menschlichem Verständnis – würden wir erwarten, daß Gott Moses Arbeit zusammenfaßt und Josua bittet, das Volk weiter zu leiten. Aber so ist es nicht: “Und Gott sagte zu Mose: Siehe, du wirst bei deinen Vätern liegen und aufstehen wird dies Volk und nachbuhlen den Göttern der Fremden des Landes, … und wird mich verlassen und brechen meinen Bund, den ich mit ihm geschlossen.” Und so verabschiedet sich Mose von seinem Volk mit tiefen Gefühlen der Traurigkeit und des Kummers und sagt: “Denn ich kenne deine Widerspenstigkeit und deine Hartnäckigkeit. Siehe, indem ich noch lebend unter euch heute bin, waret ihr widerspenstig gegen den Ewigen unseren Gott; wieviel mehr nach meinem Tode, wenn ihr ausartet und weichet von dem Wege, den ich euch geboten.” Entlang des ganzen Weges den Mose sein Volk geführt hatte wurde es begleitet von Zeichen und Wundern: der brennende Dornbusch, Mose Begegnung mit Pharao, Manna in der Wüste – und noch mehr. Aber nichts konnte das Volk überzeugen allein an den allmächtigen Gott zu glauben. Änderung und Verbesserung von Menschen können nicht durch Faktoren von außen erreicht werden, egal welche es sind. Weder Zeichen noch Wunder oder mächtige Kraft können das bewirken und auch nicht „…die Stimme des lebendigen Gottes reden hören…“. Die Rufe der Propheten und Gottesboten, während aller Generationen konnten das Volk nicht beeinflussen, seinen Weg zu ändern und zu glauben. Offensichtlich gibt es keine Wechselbeziehung zwischen äußeren Erscheinungen, die den Menschen umgeben und seinem Verhältnis zu Gott und der Erfüllung der Gebote.Wir sehen hier, daß die Persönlichkeit der Menschen und ganz besonders ihr Weg zum Glauben ausschließlich abhängig ist von der persönlichen Entscheidung des Menschen, eine Entscheidung, die aus seinem Inneren und seinem Bewußtsein kommt. Deswegen empfiehlt Moses nach dem Mißerfolg seiner Mission in Bezug auf den Glauben an Gott jetzt einen alternativen Weg, der tatsächlich eine Chance hat. “Nehmet dies Buch der Lehre und leget es zur Seite der Bundeslade des Ewigen unseres Gottes.” und “… sollst du diese Lehre vorlesen in der Gegenwart von ganz Israel, … auf daß sie hören und auf daß sie lernen und fürchten den Ewigen euren Gott.” Obwohl die Offenbarung Gottes das Volk nicht zum Glauben gebracht hat – kann vielleicht gerade die Erziehung in der Lehre und in der Torah es dazu führen. Das Niveau der Kultur und Gedankenfreiheit unserer Generation erlaubt es uns – Christen und Juden – die Torah mit allen ihren Auslegungen, die ganze Bibel und alle anderen religiösen Schriften mit Offenheit, tiefgehenden Gedanken und Mut zu unterrichten und zu lernen, und kann dadurch die Einsicht in den Glauben für jeden nach seiner Art und seinem Verständnis erreichen. Lernen ist deshalb der richtige Weg um eine Persönlichkeit zu formen, die auf dem Weg des Glaubens gehen soll. Wie Rabbi Hillel schon sagte: “Sprich nicht ‚wenn ich Muße haben werde, will ich lernen‘ – vielleicht wirst du nie Muße haben.” Aber Lernen ist existentiell. Und deshalb feiern wir das Torahfreudenfest. Mit ihm beginnt der Kreislauf des Lernens jedes Jahr von neuem.

Amnon Orbach

Purimfeiertag in der Woche der Brüderlichkeit

Purim, das Losfest, an dem der Errettung der persischen Juden durch Esther gedacht wird.

Purim ist der einzige Feiertag, der direkt mit einer Geschichte verbunden ist, die wir in einem speziellen Buch der Bibel finden, es trägt den Namen Esther. Das Buch Esther ist kein historisches Buch, aber es ist auch kein einfacher Roman, es wurde schön definiert als historischer Roman. Die Geschichte erinnert uns an ein historisches Ereignis aus dem 5. Jh. v.d.Z., bei dem das jüdische Volk im persischen Reich in großer Gefahr war. Diese Gefahr konnte mit der Hilfe eines jüdischen Hofbeamten und einer sehr hübschen Jüdin – Esther – überwunden werden. Die Katastrophe begann, durch eine persönliche Auseinandersetzung zwischen hohen Beamten am Hof des Königs. Mordechai, ein Jude, weigerte sich, vor einem menschlichen Lebewesen niederzuknien und sich zu verbeugen, wie es damals vom König angeordnet war, wenn ein Minister durch die Straßen ging. Der Beleidigte war ein hoher persischer Beamter mit Namen Haman. Wutentbrannt hetzte er den persischen König gegen das ganze jüdische Volk in allen Ländern seiner Herrschaft auf. Mordechai dachte, daß er durch seine Weigerung nur sich selbst gefährden würde – es kam ihm nicht in den Sinn, daß er damit sein ganzes Volk in Gefahr brächte. Aus dieser persönlichen Auseinandersetzung entstand die Gefahr einer nationalen Katastrophe. Das Buch Esther ist ein Monument für die Geschichte des Antisemitismus; das erste Mal in der Weltliteratur finden wir hier ein Zeugnis für die Ideologie des Hasses, ein Zeugnis für den Haß von Fremden, nur weil sie fremd oder anders sind. Esther 3,8: „Da sprach Haman zum König Ahasveros: Da ist ein Volk, zerstreut und versprengt unter die Völker, durch alle Landschaften deines Königreiches, deren Gesetze unterschieden sind von denen jeglichen Volkes; aber nach den Gesetzen des Königs tun sie nicht, und dem König bringt es nichts ein, wenn er sie läßt.“ Noch eine typisches antisemitisches Vorurteil finden wir in Esther 3,9: „Wenn es dem König gefällt, werde ausgeschrieben, sie zu vernichten und zehntausend Kikar Silber will ich darwägen in die Hände der Schaffer, sie zu bringen in die Schatzkammer des Königs.“ Und dieser böse Haman stützt sich nicht nur auf die falsche Anklage und nicht nur auf das Geld, das er von den Juden rauben kann, sondern auch auf den Haß der Völker, die unter der Herrschaft des persischen Königs stehen; ein Haß zu dem Haman sie aufgehetzt hat. Ohne diesen Haß könnte er nicht kaltblütig Männer, Frauen und Kinder töten. Keinen religiösen oder moralischen Grund hatte dieser Haß; seine Ideologie ist eine rein rassistische, die aussagt, daß der Fremde nicht so ist, wie du. Wir finden hier ein Streben zu vernichten ohne jede Begründung, einen bestialischen Haß auf alles Fremde. Wenn man dem Verlauf der Geschichte weiter folgt, bemerkt man die literarische Begabung des Schriftstellers. Mit einer feinen poetischen Art beschreibt er den Palast des Königs, seinen Harem, sein Leben in Genuß und Überfluß. Er tut es mit einer zarten Ironie, die nicht komisch ist, aber den Leser mit Genuß erfüllt. Detailliert beschreibt er so die Lebensweise am persischen Hof, ein Leben ohne nutzbringende oder realistische Überlegungen, abhängig von Schicksal oder Willkür, in dem nur der Trieb und die Lust zählt: Entscheidungen werden mit Hilfe des Ziehens eines Loses getroffen (daher kommt der Name Purim, Pur = Los, das Los bestimmte den Zeitpunkt der Vernichtung der Juden); ein großes Gelage wird veranstaltet, nur um das aufgeblasene Ego des Königs darzustellen; man vertreibt die eigene Frau, die Königin Waschti, weil sie sich weigert seiner Anweisung zu gehorchen; die Forderung Hamans wird aus dem Affekt heraus akzeptiert, nur weil Haman es so sagte; und auch die Wahl von Esther, der hübschen Jüdin, der Nichte von Mordechai, zur Nachfolgerin der herausgeworfenen Königin geschah völlig willkürlich. Und am Ende erfüllt König Ahasveros alle Bitten und Wünsche von Esther auf die gleiche Art, mit der er zuvor einverstanden war, die Juden zu vernichten, nur daß er jetzt entschieden hat, die Juden zu retten und Haman zu vernichten. Während ich das Buch Esther gelesen habe, machte ich mir die unterschiedlichsten Gedanken und unmerklich glitten sie auch zu der Idee der Woche der Brüderlichkeit der Gesellschaften für Christlich-Jüdische Zusammenarbeit, die diese Woche begangen wird. Das Motto dieser Woche heißt „denn er ist wie du“. Martin Buber übersetzt das bekannte Gebot „du sollst deinen Nächsten lieben wie dich selbst“ in dieser etwas ungewohnten Art, er betont hiermit: mein Nächster gleicht mir und hat die gleichen Gefühle, Bedürfnisse und Rechte, die gleichen Fehler, Ängste und Probleme, wie ich. Aus diesem Grund ist die Initiative „Schule Ohne Rassismus“ zum Preisträger der in dieser Woche verliehenen Buber-Rosenzweig-Medaille gewählt worden, denn Rassismus verneint die Gleichwertigkeit von Menschen und diskriminiert wegen vermeintlicher „Andersartigkeit“, so wie in unserer Purimgeschichte. Ich war tief beeindruckt von der Tatsache, daß auch die Marburger Richtsbergschule dieser Initiative angehört und sich in Projekten engagiert um unter den Schülern das Bewußtsein für die Wahrung der Menschenwürde des anderen zu fördern und aktiv etwas gegen Rassismus und Fremdenhaß zu unternehmen.

Amnon Orbach

Trage nicht auf ewig Unrecht mit dir!

Eine Auslegung der Beziehungen und Probleme zwischen den beiden Brüdern Jakob und Esau.

Ein Teil des Wochenabschnitt aus der Torah, der an diesem Samstag in allen Synagogen gelesen wird (1. Mose 32-33), behandelt ein Thema, mit dem sich jüdische Ausleger seit Generationen beschäftigen. Zwischen zwei Brüdern, den Zwillingen Jakob und Esau, herrscht seit über 20 Jahren tiefer Haß. Endlich entschließen sie sich, die entscheidenden Schritte zur Versöhnung zu machen. Der Weg vom Willen zur Versöhnung, über die genaue Planung des Zusammentreffens, bis zu dem Treffen selbst, ist eine phantastische Geschichte. Auch wenn sie vor 3000 Jahren geschah, ist sie gerade jetzt besonders aktuell und ich sehe große Ähnlichkeit zu dem, was in diesen Tagen in dem gleichen Land Israel geschieht. Die zwei Brüder, Junggesellen, lebten bei ihren Eltern, Isaak und Rebecca. Esau der Erstgeborene war „ein jagdkundiger Mann, ein Mann des Feldes“ und sein Vater Isaak hatte ihn lieb. Und Jakob der Zweitgeborene war „ein gesitteter Mann und blieb bei den Zelten“. Er wurde von seiner Mutter sehr geliebt. Der Streit zwischen den Brüdern begann, als Jakob seinen älteren Bruder Esau mit Hilfe der Ratschläge seiner taktisch denkenden Mutter zweimal in die Irre führte. Indem Jakob sich den großen Hunger seines Bruders Esau zunutze machte, kaufte er ihm, als Gegenwert für eine Portion Linsengericht, das Recht des Erstgeborenen am Erbe seines Vaters ab. Danach nutzte er die Blindheit seines Vaters Isaak aus, um auch den Segen, der für Esau gedacht war, zu stehlen. Das schaffte er durch eine Verkleidung, die seine Mutter ihm besorgt hatte. Unmittelbar danach floh er ins Ausland. Seither sind zwanzig Jahre vergangen und Jakob kehrt nach Israel zurück, reich an Familie und Besitz, an Vieh und Knechten und Mägden – fast schon der Anfang eines ganzen Volkes. Auch Esaus Stamm der Edomiter hat sich entwickelt und ist so groß geworden wie der seines Bruder. Wahrscheinlich war beiden klar, daß das Land zu klein ist, um mit dem Haß zwischen zwei Brüdern und zwei Stämmen zu leben. Ohne daß sie sich darüber verständigt hätten, hat jeder Bruder für sich entschieden, daß sie sich treffen müssen, um ihren Streit beizulegen. So gingen sie einander entgegen. In Jakob entdeckt man eine moralische und außergewöhnlich interessante Persönlichkeit. Die Ursache für die seelische Schwäche in der er sich befindet ist nicht schwer zu verstehen: sein Gewissen ist nicht rein. Was vor zwanzig Jahren geschah bedrückt sein Gewissen schon lange Zeit und er hat nicht die Kraft und den Mut seinem Bruder gegenüberzutreten. Von den Boten, die er zu Esau geschickt hat, um ein Treffen zu vereinbaren, erfährt er, daß sein Bruder schon mit 400 Menschen auf dem Weg zu ihm ist, und er weiß nicht, ob Esau gegen ihn kämpfen oder ihn ehren will. Jakob hat sich vorbereitet: er bringt ein gigantisches Geschenk von Herden aus seinem Besitz und er betet zu Gott, daß er auf seiner Seite sein und ihm helfen soll. Gleichzeitig bereitet er für seine vielen Begleiter einen möglichen Rückzug vor. Jakob ist zwar stark und er kann auch einen Kampf oder Krieg durchstehen, aber kann er mit seinem belasteten Gewissen seinen Bruder bekämpfen? Soll er noch eine Sünde zu seiner ersten hinzufügen? Es heißt (V. 8): „Da fürchtete sich Jakob sehr und ihm ward Angst.“ Warum wird die Angst Jakobs doppelt erwähnt? Eine Auslegung erklärt, daß Jakob zwei Arten von Ängsten hatte: Er hatte Angst getötet zu werden und er fürchtete sich, zu töten im Falle eines Kampfes. Diese Furcht ist keine Schwäche, sondern ein tiefer seelischer Prozeß in einem empfindsamen Menschen, der versucht Unrecht das er verursacht hat wieder gut zu machen. Dieses Unrecht liegt in seinem Bewußtsein tiefer als in Esaus. Wenn ein Mensch seinen Freund beleidigt, so erklären die Psychologen, ist es viel leichter für den Beleidigten zu vergessen oder zu verzeihen, als für den Beleidiger. Aber wenn der Beleidiger moralische Werte hat, liegt ihm sein Unrecht lange Zeit auf dem Gewissen, manchmal bis zu seinem Lebensende! Esau und Jakob treffen sich. Erfreulicherweise mit Umarmungen, Küssen und Weinen, aber auch nicht viel mehr als das. Beide Seiten haben sich gegenseitig kennengelernt, nach vielem Bitten war Esau bereit das Geschenk Jakobs zu akzeptieren, laut dem Text war es eine kurze Begegnung und nach dem Abschied trafen sie sich nie wieder. Ein schöner Kommentar macht auf folgende Stelle aufmerksam: Jakob bittet Esau: „So nimm doch meinen Segen, den ich dir bringe.“ Warum heißt es statt ‚Geschenk‘ ‚Segen‘? Der Ausleger sagt, es ist eine „Freudsche Fehlleistung“: für den Segen, den er Esau gestohlen hat, will Jakob wieder etwas gut machen. Und warum habe ich soviel Aktualität in diesem Thema gefunden? Zwei Völker leben in meinem Land, in Israel. Von ihrem Ursprung her Blutsverwandte, die nach hundert Jahren von Haß und Gewalt schon lange versuchen untereinander Frieden zu schaffen. Und Gott gebe, daß die beiden soviel Erfolg haben, wie die zwei Brüder von denen ich erzählt haben.

Gott dienen, ohne Belohnung zu erwarten

Diese Woche feierte das jüdische Volk auf der ganzen Welt das Pessachfest. Es ist das Fest zur Erinnerung an das Ereignis, das die Kinder Israels vereinigt hat, die fast 430 Jahre in Ägypten waren. Dieses Ereignis ist der Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, angeführt von Moses (Mosche). Der Auszug aus der Knechtschaft in die Freiheit (etwa 1270 vor der Zeitrechnung). Er markiert das Entstehen des israelischen Volkes. Mit der Offenbarung am Berg Sinai bekam das Volk die Torah, die Bücher Moses. Die Gabe der Torah machte den Auszug zu einer besonderen Befreiungsbewegung in der Geschichte der Menschheit. Auch wir in Marburg haben vor einer Woche den Beginn des siebentägigen Festes gefeiert – mit dem Vorlesen der Geschichte vom Auszug aus Ägypten, die wir Haggada nennen, mit dem Halten der Gebote dieses Festes und dem Essen von Mazzoth (ungesäuertes Brot). Und an diesem Fest kommt man nicht umhin, über die Offenbarung der Torah nachzudenken und sich mit der Bedeutung, die das Lernen der Torah für das Leben des Volkes Israel hat, zu beschäftigen. Denn dieses Lernen war und ist noch immer der Faktor, der das Volk zusammenhält. Das Lernen der Torah läßt einen die Bedeutung des Glaubens in der jüdischen Religion verstehen. Die tiefere Bedeutung der Offenbarung am Berg Sinai liegt darin, daß die Torah dem ganzen Volk Israel gegeben wurde und nicht einem erlesenen Teil des Volkes. Jeder einzelne im Volk hat immer gewußt, daß die Torah zu ihm gehört, wie zu jedem anderen auch. Und seine Aufgabe ist es, sich mit ihr zu beschäftigen, sie zu lernen und nach ihr zu leben. Das Vorlesen der Bücher Moses begann in den Tagen Esras im Jahr 440 vor der Zeitrechnung und es ist bis heute ein zentraler Bestandteil in der jüdischen Gebetsordnung. Seit der Tempelzerstörung (70 nach der Zeitrechnung) liest man zusätzlich noch einen Abschnitt aus den Büchern der Propheten. Und die Psalmen sind bei jeder Veranstaltung, sei es das tägliche Gebet, der Schabbatgottesdienst oder ein Fest, unser „täglich Brot“. Natürlich beziehe ich mich hier auch auf die mündliche Torah – die Mischna und den Talmud. Sie wird im Judentum „Halacha“ genannt und ist die Grundlage jüdischen Lebens. Daher ist es verständlich, daß jedes Kind die Geschichte des Volkes kennt, die Bedeutung jedes Feiertages und die tiefen Wurzeln dieser Religion, und natürlich hat der Glaube in seinem Leben ein besonderes Gewicht. Bei meinen Begegnungen hier in Deutschland war ich oft erstaunt, wie gering die Kenntnis und das Verständnis von Religion insgesamt und auch von den historischen Quellen des hier herrschenden Glaubens sind. Und von daher muß man sich nicht beklagen, daß die oberflächliche Kenntnis zu oberflächlichem Glauben führt und zum Mißverständnis des Nächsten, seiner Denkweise und seiner Bedürfnisse. Bisher haben wir keine formale Definition des Begriffs „Glauben“ – und vielleicht werden wir nie eine haben. Weder den Gläubigen selbst, noch Gelehrten oder Forschern, Theologen, Philosophen, Soziologen oder Psychologen ist es gelungen, eine einheitliche Formulierung zu finden, die den religiösen Glauben und seine verschiedenen Inhalte umfaßt. Wir, die Gläubigen, nehmen an, daß wir uns der Tatsache, daß wir vor Gott stehen, voll bewußt sind. Im Gebet von Jom Kippur heißt es: „Du hast den Menschen von Anbeginn unterschieden und ihn bestimmt vor dir zu stehen.“ Das Thema „Glauben“ ist sehr umfassend. Aber ich höre nicht auf, über die zwei Aspekte, die im Judentum in bezug auf den Glauben bestehen, nachzudenken:

1. Ein Mensch steht vor Gott und denkt an die Beziehung Gottes zu ihm. Er denkt an das, was er von Gott erwartet, an seine Belohnung, die er für seinen Dienst bekommt und an seine Strafe, die er für das Unterlassen dieses Dienstes bekommt.

2. Ein Mensch steht vor seinem Gott und weiß um die Beziehung von sich zu Gott, um seine Verpflichtungen im Denken und in Taten.

Die „Belohnung“ ist der Dienst an sich (und kein anderer) und die „Strafe“ ist, daß der Mensch von seinem Gott abgeschnitten ist (und keine andere). Dies ist ein anderes Niveau des Glaubens. Mein ganzer Wille ist es, zu den letzteren zu gehören, Gott zu dienen, ohne irgendeine Erwartung auf Belohnung.

Amnon Orbach

Die Gabe der Torah – ein universaler Wert

Shavuoth, das Wochenfest

Dieses Jahr, am 21. Mai, wird das jüdische Volk in der ganzen Welt “Shavuoth”, das Wochenfest feiern. Es ist einer der drei Feiertage, an denen dem ganzen Volk Israel geboten war, eine Pilgerfahrt zum Tempel nach Jerusalem zu machen. 5. Mose 16, 9-12: „Sieben Wochen sollst du zählen und damit anfangen wenn man zuerst die Sichel an die Halme legt und sollst (am fünfzigsten Tag) dein Wochenfest halten dem Herrn deinem Gott…“ (‘Wochen’ heißt auf hebräisch ‘Shavuoth’) In der Torah wird dieser Feiertag auch mit anderen Namen bedacht, wie „Fest der Ernte“ (2. Mose 23, 16) und „Tag der Erstlinge“ (4. Mose 28, 26). Die letzten beiden Namen bezeugen den landwirtschaftlichen Hintergrund dieses Festes, der während der Zeit des zweiten Tempels (vom Ende des 5. Jh. v.d.Z. bis zur Zerstörung des Tempels im Jahre 70 n.d.Z.) dessen Charakter herausragend bestimmte. Das ganze Volk pilgerte nach Jerusalem und brachte die erste Ernte mit, als Geschenk an die Priester des Tempels. Im Christentum, das diesen Feiertag adoptiert hat, – aber mit anderen, eigenen Bedeutungen – wurde er auf griechisch wie auch auf englisch „Pentecoste“ genannt, bei uns „Pfingsten“, der fünfzigste Tag. Wir finden im Neuen Testament in Apg 2,1, daß die Apostel und auch die erste christliche Gemeinde, die vor allem Juden waren, das Wochenfest mit dem Hintergrund ihres spezifischen Glauben an Jesus gefeiert haben, das nach ihrem Glauben der fünfzigste Tag nach der Auferstehung Jesu war. Für mich ist es an diesem hohen Feiertag wichtiger, sich auf seine zusätzliche Bedeutung zu konzentrieren, eine Bedeutung, die in der Torah überhaupt nicht erwähnt wird – ihr Echo aber hallt nach und wird nachhallen auf ewig. Eine zutiefst bedeutungsvolle Änderung haben unsere Weisen für diesen Tag bewirkt, als sie ihn von einem hauptsächlich landwirtschaftlichen Feiertag zum Tag der Übergabe der Torah gewandelt haben. Nach der Berechnung unserer Gelehrten hat Mose an diesem Tag die Torah am Berg Sinai aus den Händen Gottes erhalten. Es fällt schwer, die Zeit genau zu bestimmen, in der diese zusätzliche, neue Bedeutung eingeführt wurde, aber höchstwahrscheinlich war es in der Zeit des zweiten Tempels. Solange der Tempel existierte, war die Bedeutung des Wochenfestes eine mehr landwirtschaftliche; nach der Zerstörung des Tempels und dem Ausgang ins Exil, bekam die Übergabe der Torah an das Volk Israel herausragende Bedeutung. Die Torahübergabe bedeutet in der jüdischen Tradition die Akzeptanz der zwei Tafeln, die Mose aus den Händen Gottes erhalten hatte, auf welchen die Zehn Gebote eingraviert waren; sie sind der Höhepunkt und das zentrale Thema unserer Torah. Die ganze Torah konzentriert sich um die Zehn Gebote, erklärt sie und dient ihnen. Die letzten fünf Gebote sind in der antiken Welt sehr bekannt – sie handeln von Regeln und Gesetzen zwischen dem Menschen und seinem Nächsten, ohne die keine menschliche Gesellschaft existieren kann: Verbot von Mord, Unzucht, Stehlen, falsches Zeugnis reden, Begehren des Besitzes deines Nächsten. Heute möchte ich mich aber auf die grundlegenden Erneuerungen in den ersten Geboten konzentrieren: Zum ersten das absolut transzendente Konzept von Gott; der Gott Israels steht über- und außerhalb der Natur. Und die ganze Natur, im Himmel, auf der Erde und unter dem Meer, ist das Ergebnis seiner Schöpfung, die Gott nach seinem Willen geschaffen hat. Daher erklärt sich auch eine praktische Erneuerung: man soll Gott nicht beschreiben, kein Bild, keine Statuen und keine andere Darstellung von ihm fertigen, die irgend etwas in der Natur ähnlich ist, sowie das Verbot den Namen Gottes unnütz zu erwähnen. Zum zweiten: Gott ist einer und es gibt keinen zweiten oder anderen. Er war, er ist und er wird sein, als erster, vor allem und als letzter. Dies ist die Grundlage des monotheistischen Glaubens, des Glaubens an den einen und einzigen Gott – dies ist der Glaube Israels. Und zum dritten ist das Thema des Shabbats (Samstag) in den Zehn Geboten eine wichtige Erneuerung. Der Name Shabbat und die Verbindung mit einem bestimmten Tag war wahrscheinlich im antiken Osten bekannt, vielleicht schon vor der Entstehung des Volkes Israel. Aber in Israel bekam der Shabbat durch die Zehn Gebote eine einzigartige neue Bedeutung. Der Shabbat ist ein Feiertag der Ruhe und Erholung für alle die, die Arbeit verrichten und etwas leisten – für jeden Menschen und alle Tiere. Aufgrund dieser universalen Erneuerungen ist das Wochenfest, Shavuoth, als Feiertag der Übergabe der Torah nicht nur ein jüdisch-israelisches Fest, sondern hat eine sehr tiefe Bedeutung für alle Religionen und Völker.

Amnon Orbach

Öffne uns das Tor

Rosh Hashana, das jüdische Neujahr

Am vergangenen Sonntagabend, und während der zwei folgenden Tage, feierte das jüdische Volk in aller Welt das neue Jahr 5759. Bei den verschiedenen Nationen und Religionen ist die Zählung der Kalenderjahre ein Teil ihrer Kultur. Die Christen beginnen sie mit der Geburt Jesu. Der Islam fängt mit dem Tag an, an dem Mohammed seine Heimatstadt Mekka verlassen mußte. Das jüdische Volk wiederum zählt seit dem Tag der Schöpfung Adams. Dieser Feiertag ist in der jüdischen Tradition sozusagen der Geburtstag der Menschheit. Der Neujahrstag – Rosch Ha‘schana – wird in der Torah “ein Gedächtnistag des Trompetenschalls” genannt, aber laut der jüdischen Tradition gilt er seit dem 6. Jh. v.d.Z. als Jom Ha’din – Tag des Gerichtes. Ein Tag, an dem jeder jüdische Gläubige vor seinem Gott vor Gericht steht. Er muß seine Taten und seine Sünden gegenüber Gott erwägen und bedenken. Im Gebet bittet er um und hofft auf Vergebung. Alle Wesen, die während der ersten sechs Schöpfungstage vor dem Menschen geschaffen wurden, leben gemäß den Gesetzen der Natur, nach den Trieben, die der Schöpfer ihnen vorgegeben hat. Die Eigenschaft, die den Menschen von der gesamten Schöpfung unterscheidet, ist, daß nur der Mensch, seinen Verstand und seinen Willen beherrschen kann. Er allein hat die Fähigkeit der Entscheidungsfreiheit bekommen. Auch der Mensch hätte von Gott z.B. dazu vorherbestimmt werden können, nur Gutes zu tun. Es mag sogar die natürliche Tendenz des Menschen sein, Gutes tun zu wollen, aber die ihm gegebene Fähigkeit zu wählen, kann sich darin auch als sein größtes Hindernis erweisen; sie kann einen Hauptgrund für seine Sünden darstellen, wenn der Mensch seinen Trieben nachgibt. Über alle seine Taten sowie seine Sünden soll der gläubige Mensch seinem Schöpfer und sich selbst Rechenschaft geben. Je tiefer und vollkommener der Glaube des Menschen an Gott ist, um so stärker ist die Hoffnung des Gläubigen von Gott Vergebung zu erlangen und um so tiefer ist seine Zuversicht für das kommende neue Jahr. Für die beiden Feiertage an Neujahr haben die Weisen als Lesung in der Synagoge zwei Abschnitte aus der Torah gewählt (am ersten Tag Gen 21, am zweiten Gen 22). Darin wird Abraham – der größte Glaubende aller Generationen – geprüft. Es handelt sich um zwei Geschichten, die sich für unser heutiges Verständnis beim ersten Hören geradezu unmenschlich anhören. Aber bei dem Versuch, sie besser zu verstehen bemerkt man ihre erstaunliche Tiefe. Die Suche nach dem Gemeinsamen der beiden Abschnitte erklärt uns, warum gerade sie ausgesucht wurden, um an diesen bedeutenden Feiertagen gelesen zu werden. Der erste Abschnitt beschreibt, wie Yitzchak seiner Mutter Sara geboren wird, der seit Jahren erhoffte und erwartete Sohn. Seine Geburt ruft eine Konkurrenz zwischen ihm und dem älteren Sohn Ischmael hervor, den Abraham auch sehr liebt. Sara besteht darauf, ihn und seine Mutter, die Magd Hagar, zu vertreiben, damit Ischmael nicht zum Erben seines Vaters Abraham würde. Abraham ist sehr verärgert und widerspricht, aber Gott mischt sich zu Saras Gunsten ein, so daß Abraham trotz seines Schmerzes, ohne jeglichen Widerspruch die Vertreibung ausführt. Die zweite Geschichte, die in Genesis unmittelbar an die erste anschließt, erzählt uns von der Anweisung Gottes an Abraham, seinen Sohn Yitzchak – um den er sein ganzes Leben lang gebetet hat, seinen zukünftigen Erben, den er aus tiefem Herzen liebt – Gott zu opfern. Wiederum gehorcht Abraham ohne Widerspruch dem Befehl Gottes. In beiden Fällen werden die Kinder buchstäblich in letzter Minute von einem Engel Gottes gerettet. Wie können wir Abrahams Handeln verstehen? Worin besteht die Verbindung zu der Feier des Tages von Glauben und Gericht? Abraham, der größte Glaubensvater, führt in dem Augenblick, in dem er den Befehl Gottes erhält, diesen in vollem Glauben an Gott aus. Dennoch, ohne ihre Herkunft zu kennen, erfüllt ihn eine leise Hoffnung und in der Tiefe seines Unterbewußtseins erinnert er sich an die Verheißungen Gottes: bei Ischmael hieß es “doch auch den Sohn der Magd werde ich zu einem Volk machen, weil er dein Same ist”, über Yitzchak sagte Gott “denn in Yitzchak wird dir ein Nachkomme genannt werden”. Obwohl Abraham weiß, daß er mit der Ausführung von Gottes Befehl dem Leben seiner beiden Kinder ein Ende setzt, hat ihn sein tiefer Glaube an die Verheißungen Gottes mit der Hoffnung auf Rettung und Erlösung erfüllt, obwohl er nicht weiß, woher sie kommen werden. An diesem Feiertag von Glaube und Gericht sind auch wir von der tiefen Hoffnung erfüllt, wie das Volk Israel aller Generationen, daß Gott uns nicht verläßt, sondern trotz allem einschreibt in das Buch des Lebens. Schana towa – ein gutes neues Jahr!

Amnon Orbach

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