Sukkot, das Laubhüttenfest und Simchat Torah, das Torahfreudenfest
In einer Woche feiern die Juden in aller Welt Sukkot, das Laubhüttenfest. In der Torah heißt es: „In Hütten sollt ihr wohnen sieben Tage … Damit es eure Geschlechter erfahren, daß ich in Hütten habe wohnen lassen die Kinder Israel, als ich sie herausgeführt aus dem Lande Ägypten.“ (3.Mose 23, 42-43) Wie die meisten jüdischen Feiertage hat auch Sukkot ein landwirtschaftliches Motiv, es ist der Feiertag der Ernte, an dem alle Früchte von den Feldern und Weinbergen gesammelt werden und steht am Ende des landwirtschaftlichen Jahres. Aber nicht nur das landwirtschaftliche Jahr endet. Ein weiteres wichtiges Ereignis findet statt: die jährliche Torahlesung in den Synagogen endet. Man beendet das Lesen der ganzen Torah am Ende des 5. Buch Mose, und fängt unmittelbar im Anschluß von neuem an, mit der Schöpfungsgeschichte im 1. Buch Mose. Dies geschieht am 8. Tag von Sukkot, am Feiertag Simchat Torah, dem Torahfreudenfest. Eine Feier voller Fröhlichkeit, Gesang und Tanz mit der Torahrolle im Arm. Wenn ich das Ende der Torah lese, werden in mir viele Gedanken geweckt. An erster Stelle – ihr trauriges Ende. Mose, der große Anführer des Volkes Israel verabschiedet sich von seinem Volk und von der Welt. Ein Anführer, der sein ganzes Leben danach gestrebt hat, sein Volk nach 40 Jahren Wüstenwanderung in das Land Israel zu bringen, erlebt es nicht, selbst in das Land hinein zu kommen. “Und der Herr redete mit Mose … geh … auf den Berg Nebo … gegenüber Jericho, und schaue das Land Kanaan, das ich den Israeliten zum Eigentum geben werde. Dann stirb auf dem Berg … denn du sollst das Land vor dir sehen … aber du sollst nicht hineinkommen.” (5.Mose 34,7). Warum verdient Mose so eine schwere Strafe? Der Grund dafür ist in unseren Augen – menschlichen Augen – ein ganz unbedeutender: Als sich die Israeliten während der Wüstenwanderung bei Mose beklagten, daß sie kein Wasser zu trinken hätten, sagte Gott zu Mose, er solle das Volk sammeln und zu einem Felsen sprechen, so daß der Fels Wasser geben würde. Mose sammelte das Volk, aber anstatt zu reden schlug er mit seinem Stab zweimal gegen den Felsen und der Fels gab Wasser. Das war seine Sünde, wegen der er keine Erlaubnis bekam, in das Land Israel zu kommen, sondern mit seinem Leben bezahlte. Das Folgende ist ebenso erstaunlich: in Josuas Anwesenheit befiehlt Gott Mose, seine Aufgaben an Josua weiterzugeben. Nach unserem Verständnis – menschlichem Verständnis – würden wir erwarten, daß Gott Moses Arbeit zusammenfaßt und Josua bittet, das Volk weiter zu leiten. Aber so ist es nicht: “Und Gott sagte zu Mose: Siehe, du wirst bei deinen Vätern liegen und aufstehen wird dies Volk und nachbuhlen den Göttern der Fremden des Landes, … und wird mich verlassen und brechen meinen Bund, den ich mit ihm geschlossen.” Und so verabschiedet sich Mose von seinem Volk mit tiefen Gefühlen der Traurigkeit und des Kummers und sagt: “Denn ich kenne deine Widerspenstigkeit und deine Hartnäckigkeit. Siehe, indem ich noch lebend unter euch heute bin, waret ihr widerspenstig gegen den Ewigen unseren Gott; wieviel mehr nach meinem Tode, wenn ihr ausartet und weichet von dem Wege, den ich euch geboten.” Entlang des ganzen Weges den Mose sein Volk geführt hatte wurde es begleitet von Zeichen und Wundern: der brennende Dornbusch, Mose Begegnung mit Pharao, Manna in der Wüste – und noch mehr. Aber nichts konnte das Volk überzeugen allein an den allmächtigen Gott zu glauben. Änderung und Verbesserung von Menschen können nicht durch Faktoren von außen erreicht werden, egal welche es sind. Weder Zeichen noch Wunder oder mächtige Kraft können das bewirken und auch nicht „…die Stimme des lebendigen Gottes reden hören…“. Die Rufe der Propheten und Gottesboten, während aller Generationen konnten das Volk nicht beeinflussen, seinen Weg zu ändern und zu glauben. Offensichtlich gibt es keine Wechselbeziehung zwischen äußeren Erscheinungen, die den Menschen umgeben und seinem Verhältnis zu Gott und der Erfüllung der Gebote.Wir sehen hier, daß die Persönlichkeit der Menschen und ganz besonders ihr Weg zum Glauben ausschließlich abhängig ist von der persönlichen Entscheidung des Menschen, eine Entscheidung, die aus seinem Inneren und seinem Bewußtsein kommt. Deswegen empfiehlt Moses nach dem Mißerfolg seiner Mission in Bezug auf den Glauben an Gott jetzt einen alternativen Weg, der tatsächlich eine Chance hat. “Nehmet dies Buch der Lehre und leget es zur Seite der Bundeslade des Ewigen unseres Gottes.” und “… sollst du diese Lehre vorlesen in der Gegenwart von ganz Israel, … auf daß sie hören und auf daß sie lernen und fürchten den Ewigen euren Gott.” Obwohl die Offenbarung Gottes das Volk nicht zum Glauben gebracht hat – kann vielleicht gerade die Erziehung in der Lehre und in der Torah es dazu führen. Das Niveau der Kultur und Gedankenfreiheit unserer Generation erlaubt es uns – Christen und Juden – die Torah mit allen ihren Auslegungen, die ganze Bibel und alle anderen religiösen Schriften mit Offenheit, tiefgehenden Gedanken und Mut zu unterrichten und zu lernen, und kann dadurch die Einsicht in den Glauben für jeden nach seiner Art und seinem Verständnis erreichen. Lernen ist deshalb der richtige Weg um eine Persönlichkeit zu formen, die auf dem Weg des Glaubens gehen soll. Wie Rabbi Hillel schon sagte: “Sprich nicht ‚wenn ich Muße haben werde, will ich lernen‘ – vielleicht wirst du nie Muße haben.” Aber Lernen ist existentiell. Und deshalb feiern wir das Torahfreudenfest. Mit ihm beginnt der Kreislauf des Lernens jedes Jahr von neuem.
Amnon Orbach