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Auszug aus Ägypten – Die Entstehung des Volkes Israel
Die jüdischen Schriften widmen dem Auszug aus Ägypten viel Raum. Vier der fünf Bücher Mose – Exodus, Levitikus, Numeri, Deuteronomium – beschreiben diese Periode. Alle Schriftsteller der Bibel, auch die Propheten, beschäftigen sich immer wieder mit diesem Ereignis. Wodurch hat der Auszug aus Ägypten soviel Aufmerksamkeit verdient? Dadurch, daß er eine der beiden Begründungen für den Beginn der Existenz des Volkes Israel ist. Zum einen kann man sagen, daß das Volk Israel seit der Schöpfung existiert, die nach der Zählung des jüdischen Kalenders vor 5763 Jahren stattgefunden hat und deren man in der Feier des jüdischen Neujahrsfestes im Herbst gedenkt. Zum anderen datiert man die Entstehung des Volkes Israel mit dem Auszug der Hebräer – der Israeliten – aus Ägypten vor ungefähr 3300 Jahren. Denn in jener Zeit, während der Wanderung zum verheißenen Land, wurde das Volk Israel zu einer nationalen Einheit. Und seither ist dieses Volk durch den Bund mit Gott auch verpflichtet, alle seine Gebote zu erfüllen, die in den erwähnten vier Büchern Mose niedergeschrieben sind. Bei der Betrachtung der 10 Gebote, die dem Volk Israel in der Offenbarung am Berg Sinai gegeben wurden, findet man diese beiden Begründungen in den unterschiedlichen Erklärungen zum vierten Gebot wieder. Es ist das Gebot, den Schabbat, den Samstag, zu heiligen. Die erste Version begründet die Heiligung des Schabbat mit der Geschichte der Schöpfung der Welt: „Denn sechs Tage hat der Ewige gemacht den Himmel und die Erde … und geruhet am siebenten Tage, deswegen hat gesegnet der Ewige den Schabbat und ihn geheiligt.“ (Ex 20,11). Die zweite Version begründet dies mit der Erinnerung des Volkes Israel an den Auszug aus der Sklaverei in Ägypten in die Freiheit des Volkes in seinem Land: „Und sollst bedenken, daß du ein Knecht gewesen im Lande Ägypten und dich herausgeführt der Ewige dein Gott von da …darum hat dir der Ewige dein Gott geboten, den Schabbat zu halten.“ (Dtn 5,15). Der wichtigste Feiertag Israels, der Schabbat, wird also durch die zwei unterschiedlichen Begründungen der Entstehung des Volkes Israels gedeutet. Obwohl die beiden Ereignisse in der Torah, im Gebet und in der jüdischen Tradition etwas miteinander konkurrieren, was ihre Wichtigkeit betrifft, ist ihre Bedeutung gleichermaßen tief: die Verbindung einerseits zur Schöpfung, zum jüdischen Glauben an den einzigen Gott und andererseits zur jüdischen Nationalität. Hier wird die besondere, untrennbare Verbindung zwischen dem jüdischen Volk als Nation und seiner Religion deutlich. Wir feiern den religiösen Anfang des jüdischen Volkes an Rosh Hashana (dem jüdischen Neujahr), und den Anfang der Existenz des Volkes Israel hat die jüdische Welt in der vergangenen Woche sieben Tage lang gefeiert – an Pessach. Die enge Verbindung von Volk und Religion existierte bis zur Epoche der Aufklärung. Aber die vollen Rechte, die die Juden in Europa seit dem 18. Jh. erhielten, riefen eine nationale Assimilation mit den Ländern in denen sie lebten hervor. Dadurch entwickelte sich eine Tendenz, nur nach der Religion Jude zu bleiben, aber die nationale Zugehörigkeit mit der Nation, in der man lebte, zu verbinden. Eine Gegenbewegung war die nationale politische Entwicklung unter den Juden Europas, die zionistische Bewegung, die danach strebte, einen unabhängigen jüdischen Staat zu gründen. Sie war hauptsächlich säkular und vernachlässigte ihr religiöses Bewußtsein, aber sie war eng verbunden mit der jüdischen Geschichte, dem Jahrtausendealten jüdischen Schicksal, und führte zur Gründung des Staates Israel. Die zwei Konzepte, Religion ohne Nation und Nation ohne Religion, brachten schwere Spannungen mit sich. Diejenigen, die im Judentum nur die Religion sehen, können den großen nationalen Reichtum des Judentums nicht verleugnen und diejenigen, die im Judentum nur das Volk und seine nationalen Bestrebungen sehen, können die Tatsache nicht verleugnen, daß ein enormer Teil der jüdischen Kultur religiös ist. Die enge Verknüpfung von Religion und Nation findet auch in den meisten religiösen jüdischen Feiertagen ihren Ausdruck, die immer zugleich mit der Geschichte, mit Landwirtschaft, Natur usw. verbunden sind. Die vielen Namen des Pessachfeiertags zeugen hiervon: ‚Pessach’ – der religiöse Name, der sich auf das Pessachopfer bezieht, ‚Chag Ha’mazzot’ – der geschichtliche Name, der vom eiligen Backen des ungesäuerten Brotes beim Auszug aus Ägypten erzählt, ‚Chag Ha’aviv’ – das Frühlingsfest, der Beginn der Ernte im Land Israel, ‚Chag Ha’cherut’ – das Fest der Freiheit, an dem wir feiern, daß ein Volk von Sklaven in Ägypten ein freies Volk in seinem von Gott versprochenen Land wurde. Deshalb versuchen die meisten Strömungen heute, diese beiden Pole zu überbrücken. Es gibt kaum ein jüdisches Haus, sei es auch noch so säkular, das nicht das Pessachfest mit Freude feiert und in der Mannigfaltigkeit des Judentums genau die Komposition von Volk und Religion in jeweils unterschiedlicher Zusammensetzung findet, die es sucht.
Amnon Orbach
Gott dienen, ohne Belohnung zu erwarten
Diese Woche feierte das jüdische Volk auf der ganzen Welt das Pessachfest. Es ist das Fest zur Erinnerung an das Ereignis, das die Kinder Israels vereinigt hat, die fast 430 Jahre in Ägypten waren. Dieses Ereignis ist der Auszug der Kinder Israels aus Ägypten, angeführt von Moses (Mosche). Der Auszug aus der Knechtschaft in die Freiheit (etwa 1270 vor der Zeitrechnung). Er markiert das Entstehen des israelischen Volkes. Mit der Offenbarung am Berg Sinai bekam das Volk die Torah, die Bücher Moses. Die Gabe der Torah machte den Auszug zu einer besonderen Befreiungsbewegung in der Geschichte der Menschheit. Auch wir in Marburg haben vor einer Woche den Beginn des siebentägigen Festes gefeiert – mit dem Vorlesen der Geschichte vom Auszug aus Ägypten, die wir Haggada nennen, mit dem Halten der Gebote dieses Festes und dem Essen von Mazzoth (ungesäuertes Brot). Und an diesem Fest kommt man nicht umhin, über die Offenbarung der Torah nachzudenken und sich mit der Bedeutung, die das Lernen der Torah für das Leben des Volkes Israel hat, zu beschäftigen. Denn dieses Lernen war und ist noch immer der Faktor, der das Volk zusammenhält. Das Lernen der Torah läßt einen die Bedeutung des Glaubens in der jüdischen Religion verstehen. Die tiefere Bedeutung der Offenbarung am Berg Sinai liegt darin, daß die Torah dem ganzen Volk Israel gegeben wurde und nicht einem erlesenen Teil des Volkes. Jeder einzelne im Volk hat immer gewußt, daß die Torah zu ihm gehört, wie zu jedem anderen auch. Und seine Aufgabe ist es, sich mit ihr zu beschäftigen, sie zu lernen und nach ihr zu leben. Das Vorlesen der Bücher Moses begann in den Tagen Esras im Jahr 440 vor der Zeitrechnung und es ist bis heute ein zentraler Bestandteil in der jüdischen Gebetsordnung. Seit der Tempelzerstörung (70 nach der Zeitrechnung) liest man zusätzlich noch einen Abschnitt aus den Büchern der Propheten. Und die Psalmen sind bei jeder Veranstaltung, sei es das tägliche Gebet, der Schabbatgottesdienst oder ein Fest, unser „täglich Brot“. Natürlich beziehe ich mich hier auch auf die mündliche Torah – die Mischna und den Talmud. Sie wird im Judentum „Halacha“ genannt und ist die Grundlage jüdischen Lebens. Daher ist es verständlich, daß jedes Kind die Geschichte des Volkes kennt, die Bedeutung jedes Feiertages und die tiefen Wurzeln dieser Religion, und natürlich hat der Glaube in seinem Leben ein besonderes Gewicht. Bei meinen Begegnungen hier in Deutschland war ich oft erstaunt, wie gering die Kenntnis und das Verständnis von Religion insgesamt und auch von den historischen Quellen des hier herrschenden Glaubens sind. Und von daher muß man sich nicht beklagen, daß die oberflächliche Kenntnis zu oberflächlichem Glauben führt und zum Mißverständnis des Nächsten, seiner Denkweise und seiner Bedürfnisse. Bisher haben wir keine formale Definition des Begriffs „Glauben“ – und vielleicht werden wir nie eine haben. Weder den Gläubigen selbst, noch Gelehrten oder Forschern, Theologen, Philosophen, Soziologen oder Psychologen ist es gelungen, eine einheitliche Formulierung zu finden, die den religiösen Glauben und seine verschiedenen Inhalte umfaßt. Wir, die Gläubigen, nehmen an, daß wir uns der Tatsache, daß wir vor Gott stehen, voll bewußt sind. Im Gebet von Jom Kippur heißt es: „Du hast den Menschen von Anbeginn unterschieden und ihn bestimmt vor dir zu stehen.“ Das Thema „Glauben“ ist sehr umfassend. Aber ich höre nicht auf, über die zwei Aspekte, die im Judentum in bezug auf den Glauben bestehen, nachzudenken:
1. Ein Mensch steht vor Gott und denkt an die Beziehung Gottes zu ihm. Er denkt an das, was er von Gott erwartet, an seine Belohnung, die er für seinen Dienst bekommt und an seine Strafe, die er für das Unterlassen dieses Dienstes bekommt.
2. Ein Mensch steht vor seinem Gott und weiß um die Beziehung von sich zu Gott, um seine Verpflichtungen im Denken und in Taten.
Die „Belohnung“ ist der Dienst an sich (und kein anderer) und die „Strafe“ ist, daß der Mensch von seinem Gott abgeschnitten ist (und keine andere). Dies ist ein anderes Niveau des Glaubens. Mein ganzer Wille ist es, zu den letzteren zu gehören, Gott zu dienen, ohne irgendeine Erwartung auf Belohnung.
Amnon Orbach